Freitag, Oktober 19, 2007

Kognitions- und andere Bindestrich-Wissenschaften

Nach einer interessanten Diskussion mit einem frischgebackenen Psychologie-Doktoranden (der ebenso viel Psychologe ist wie ich Linguist), bin ich vorhin auf den Wikipedia-Artikel über Kognitionswissenschaften gestoßen.

Wie ich schon beim Durchlesen des Artikel erkenne, haben interdisziplinäre Programme immer ein großes Problem:
Sie neigen dazu, die Schnittmenge aus allen Disziplinen zu bilden und nicht die Vereinigungsmenge.

So sind zum Beispiel für einen Linguisten die Thesen von Chomsky und das Eliza-System von Weizenbaum die ältesten aller Hüte. Für Informatiker sind neuronale Netze auch nur eines von vielen Machine Learning Verfahren.

Alle im Artikel angesprochenen Felder zu verstehen mag vor 50 Jahren noch möglich gewesen sein. Heute jedoch muss man eben die Grammatik-Modelle kennen, die nach Chomsky kamen, und ebenso die neueren Erkenntnisse aus der Informatik, die ein nicht geringes mathematisches Grundverständnis voraussetzen. Geschweige denn Erkenntnisse aus der Psychologie, über die ich selbst nichts aussagen kann, etc. Man wird sich spezialisieren müssen.

Die interdisziplinären Wissenschaften neigen dazu, Abkömmlinge einer „reinen“ Wissenschaft zu sein. Und davon gibt es dann mehrere – eine „Bindestrich-Wissenschaft“ für jedes der Teilgebiete, die etwas einbringt. Bei der Kognitionswissenschaft handelt es sich also wohl im Selbstverständnis der Leute, die es betreiben, nicht um eine eigene Wissenschaft, sondern um einen Abkömmling der Psychologie, um den Teil der Psychologie, der sich mit der Funktionsweise des Gehirns beschäftigt. Der Abkömmling der Biologie zum selben Fach heißt dann eben die „Neuroscience“.

Diese Fächer neigen dann dazu, die Denkweisen und Techniken der „Hauptdisziplin“ beizubehalten und um einige Techniken der Bindestrich-Disziplin zu ergänzen. Insofern ergibt sich dann keine neue Wissenschaft, sondern eine alte mit Anbau. Vielleicht ist das typisch für eine junge Wissenschaft, und sie braucht ein paar Jahrzehnte, um sich zu emanzipieren und in der Taxonomie der Fächer einen eigenen Platz einzunehmen.

Die Computerlinguistik (CL) selbst ist schon ein Schnittstellenfach, nämlich an der Schnittstelle zwischen Linguistik und Informatik (und ist Teilgebiet der Linguistik – während das dazugehörige Teilgebiet der Informatik „Natural Language Processing“ heißt). Schon diese zwei Fächer zu verbinden ist unheimlich schwierig, weil hier Geisteswissenschaft und Ingenieurswissenschaft aufeinander prallen. Da kommen also Leute mit komplett unterschiedlichen Fähigkeiten, Techniken und Denkweisen zusammen.

Meiner Erfahrung nach führt das dann dazu, dass die Leute aneinander vorbeiarbeiten und es große Ressentiments gegen die „andere Seite“ gibt. Und das oft zurecht: Die Gefahr besteht eben, dass man Ergebnisse in der "Anhängsel-Wissenschaft" zu produzieren versucht, wo aber der Schreibende aufgrund seiner „falschen“ Ausbildung oder seiner „nicht passenden“ Hirnstruktur nicht die Kapazitäten hat, um wirkliche Neues zu erbringen.

Ein Informatiker-CLer neigt z.B. dazu, simplistische Sprachmodelle zu verwenden, deren Fehler einem Linguisten schon auf den ersten Blick offensichtlich sind. Und Linguisten-CLer schreiben mühsam Programme und publizieren große Aufsätze darüber, die einem Informatiker nur ein müdes Lächeln entlocken können. Ein Informatiker, hätte er die Arbeit selbst geschrieben, hätte also zu viel größeren Leistungen in der selben Zeit kommen können.

Zugegeben: Natürlich hat das Bilden einer interdisziplinären Wissenschaft seinen Sinn. Weil man eben in einem Fach nicht mehr weiter kommt, sucht man nach dem Funken, der überspringt.

Die Grenzen zu überwinden und pragmatisch zusammenzuarbeiten, das geht nur, wenn jeder Einzelne Anreize erhält, Teamziele über eigene Ziele zu stellen. Ich habe jetzt die Erfahrung gesammelt, dass das nur im Unternehmen oder privaten Forschungseinrichtungen funktioniert, nicht aber an der Universität. Übrigens auch in den USA, wie ich in dem Buch von Feibelman („A PhD is not enough“) entnehme.

Zur effizienten Organisation von Teamarbeit benötigt man Management, aber die Universität ist management-frei.

Ich konnte das genau beobachten: Auch an der Uni haben sich schon zwei Gruppen gebildet, die linguistisch motivierten und die informatisch orientierten. Diese hatten sich eigentlich nichts zu sagen und auch kein Interesse, voneinander zu lernen (Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel). Meine eigenen Versuche, beide Welten näher zusammenzubringen, haben wenig gefruchtet. Es gab sowohl ein Interesse-, ein Anreiz- als auch ein ganz einfaches Verständnisproblem.

In meiner Firma wiederum sind die Leute aufeinander angewiesen, aber es war ein sehr großer Lernprozess: Am Anfang waren es sehr unterschiedliche Gruppen, eine dominantere und eine andere, die sich dominiert gefühlt hat, und es war ein mehrjähriger Anpassungsprozess nötig, in dem beide Seiten voneinander gelernt haben.

Am besten ist diese Interdisziplinarität daher wohl an privaten Forschungseinrichtungen aufgehoben. Vielleicht auch an staatlichen, wenn sie für die Lösung eines gemeinsamen Zieles eingerichtet wurden. Das beste Beispiel für mich sind dafür die Bell Labs in den 80er Jahren, bei denen die Firma Bell viel Geld in die Hand nahm, um nach neuen Geschäftsmodellen für die Zeit nach dem Telefonmonopol zu suchen. Für Bell selbst ist dabei wohl nicht übermäßig viel herausgekommen, für einzelne Teilnehmer eine ganze Zahl von Nobelpreisen.